Redebeitrag Berthold Keunecke

Redebeitrag 1. Oktober
Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,
ich heiße Berthold Keunecke, bin Pfarrer in Herford und arbeite
beim Internationalen Versöhnungsbund mit – das heißt: mache
Friedensarbeit seit 40 Jahren. Deshalb hat mich der Angriff Russlands
auf die Ukraine so geschockt – und unsere deutsche Reaktion
mit dem Aufrüstungsprogramm noch mehr.
Der Ukrainekrieg ist eine Katastrophe, in vielerlei Hinsicht. Ja, er
hat mir buchstäblich die Schuhe ausgezogen. Seit Mai laufe ich barfuß
als Zeichen der Buße: Ich habe nicht laut genug geschrieen gegen
den neuen Kalten Krieg in Europa. Als Kirchen haben wir gute
Friedensbeschlüsse gefasst, aber wir haben ihre Umsetzung nicht
wirklich eingefordert. Wir haben den Angriffskrieg der NATO gegen
Serbien, den Kosovokrieg, nie richtig aufgearbeitet, sondern fast vergessen.

  • Jetzt tue ich Buße und fühle mich den Menschen in den
    Kriegsgebieten etwas näher.
    Der Ukrainekrieg ist eine Katastrophe, die Gewalt macht uns hilflos
    und ohnmächtig. Man möchte mit der Faust dreinschlagen, dem
    Morden ein Ende bereiten – aber genau das geht eben nicht. Die
    einfache Lösung mit Gewalt ist einfach dumm. Wir brauchen einfach
    kluge Lösungen. Kluge Lösungen sind auch einfach, wenn wir uns
    erlauben, sie zu denken. Lösungen sind einfach, wenn wir uns
    psychisch nicht von der Konfliktdynamik mitreißen lassen, wenn wir
    uns das Denken nicht vernebeln lassen: Das aber fällt den meisten
    schwer.
    Klar ist: Verhandlungen sind der einzige Weg zum Waffenstillstand
  • und späteren Frieden. Wir wissen auch ohne Experten, dass Russland
    mit seinen Atomwaffen nicht militärisch besiegt werden kann.
    Die Bereitschaft zur Verhandlung wird Russland meist abgesprochen,
    aber sie ist eindeutig da. Verhandlungen funktionieren ja auch,
    wo es um Austausch von Gefangenen und Gefallenen geht.
    Klar ist: Deeskalation ist das Gebot der Stunde. Aber die Konfliktdynamik
    weist in die andere Richtung: Jede Drohung ist eine Eskalation,
    jede Waffenlieferung ist eine Eskalation, ja jede unbewiesene
    Anschuldigung stellt eine Eskalation des Konfliktes dar. Und auf Eskalation
    folgt fast automatisch die Eskalation der anderen Seite. Wir
    brauchen Deeskalation: Verzicht auf Angriffe, militärisch und verbal.
    Verständnis für den Gegner. Eingeständnis eigener Fehler. Ja, das ist
    schwer, das kennen wir ja aus unseren persönlichen Konflikten.
    Ich weiß, dass das fast übermenschliche Forderungen an unsere
    Politiker und Politikerinnen sind. Sie sind zur Konfliktpartei geworden,
    sie unterliegen dem Koalitionszwang: Im Kampf darf ich mir
    keine Schwäche erlauben, keine Blöße geben, darf die eigenen Leute
    nicht kritisieren. Das ist gruppendynamisch immer so, dass im Krieg
    alle zusammenhalten – zusammenhalten müssen! Wenn ein Konflikt
    zum Krieg geworden ist, wächst die Eskalationsdynamik, wird der
    Gegner immer verteufelt (sonst hätten wir ja Hemmungen, zu töten!)
    Im Krieg drängt alles in die Richtung der letzten Eskalationsstufe:
    Auf den Wunsch, zu vernichten, egal was es kostet. Das ist echt katastrophal:
    Allein schon wegen der Atomwaffen auf beiden Seiten.
    Vor dieser katastrophalen Dynamik müssen wir weiter warnen, müssen
    Deeskalation einfordern. Selbst wenn wir als Schwächlinge bezeichnet
    werden – und schlimmstenfalls der Zusammenarbeit mit
    dem Feind bezichtigt werden. So ging es Friedensleuten immer
    schon.
    Nur Leute mit starkem Rückgrat, nur Menschen mit einem tiefen
    Selbstvertrauen oder einer tiefen Menschlichkeit, einem tiefen Glauben,
    schaffen das, da gegen den Strom zu schwimmen. In der Politik
    gibt es die kaum noch. Zugegebenermaßen ist in der Politik der
    Druck auch erheblich höher.
    Aber: Ihr! Ihr gehört zu diesen Menschen, die für Deeskalation
    werben können. Überall. Zeigt euer Rückgrat, stärkt eure Menschlichkeit:
    Stimmt nicht mit ein in den Chor der sogenannten Experten,
    die grundsätzlich alles Böse nur beim Feind erkennen.
    Vertraut auf das Einfache! Vertraut nicht den Worten anderer, sondern
    dem eigenen Verstand! Die Auswege aus dem Krieg sind ganz
    einfach: Frieden einfordern statt Waffen liefern, gute Angebote machen
    für einen Waffenstillstand, Verhandeln statt schiessen! Danke.